Apokalypse Now

Zuerst die letzte Biene, zehn Jahre später der Mensch?

11. Okt. 2018 von

Schon im Oktober 2017 alarmierte die „Krefeld-Studie“: Seitdem können nur noch Ignoranten beim Thema Artensterben mit den Schultern zucken. Mit bisher mehr als 75 Prozent verschwundener Insekten schwindet nämlich das Fundament unseres intakten Ökosystems …

Wenn Bienen, Schmetterlinge und Käfer von Feldern und aus Wäldern verschwinden, wird es nicht nur im eigenen Garten unheimlich still, auch unsere Nahrungsmittelversorgung wird drastisch gefährdet. Auf das große Insektensterben folgen Vögel, Frösche und andere Tiere, die sich von Insekten ernähren.

Geht das Insektensterben zukünftig so weiter wie bisher, lässt sich dann berechnen, wann der Mensch folgt? Was können wir tun, dass es gar nicht erst zu dieser existenzgefährdenden Öko-Katastrophe kommt? Wie lässt sich der dramatische Insektenschwund jetzt noch stoppen? Und, wer ist eigentlich dafür verantwortlich?

Insektenforscher Andreas Segerer und Eva Rosenkranz sagen in ihrem Buch „Das große Insektensterben“, was es dringend braucht, damit die Welt weiter summt und nicht verstummt.

Lässt sich berechnen, wann der Mensch auf das große Insektensterben folgt?

Andreas Segerer: „Die Zusammenhänge sind äußerst komplex. Exakte Prognosen sind genauso wenig möglich wie beim Wetter oder Klima. Wenn die Insekten verschwunden sind, geben einige Forscher der Menschheit noch 10 Jahre, aber auch das sind Mutmaßungen. Fakt ist: Eine Welt ohne Insekten wäre keine lebenswerte Welt mehr.“

So wäre die Welt ohne Insekten

Wie kann ich mir das Szenario vorstellen, wenn beispielsweise die letzte Biene stirbt?

Segerer: „Rückgang von Pflanzenarten, die sich durch Bestäubung vermehren und Rückgang von Tierarten, die sich von Insekten ernähren (z. B. Süßwasserfische, Vögel, etc.) führt zu schwerwiegender Reduktion der Lebensqualität bis hin zum kompletten Zusammenbruch ganzer Ökosysteme.“

Konkrete Folgen wären …

Wegfall der Bestäubung: Drastische Verminderung des Nahrungsangebots, viele Feldfrüchte gibt es nicht mehr oder nur noch in schlechter Qualität, auch Fleisch und Milchprodukte werden weniger, da viele Nutzpflanzen für die Tierernährung sich durch Bestäubung vermehren.

Anhäufung von Kadavern, Essensresten und Exkrementen: Insekten sind diejenigen Organismen, die an vorderster Front am Abbau dieser Rückstände beteiligt sind. Ohne sie müssen Pilze und Bakterien die Hauptarbeit erledigen. Unsere Welt wäre voller Schimmel und Fäulnis, die Ausbreitung von Seuchen wird massiv begünstigt.

Insgesamt wird die Welt stumm, grau und öd: Wie lange der Mensch unter solchen Bedingungen tatsächlich überleben kann, ist nicht klar. Aber eine derartige prä- apokalyptische Welt ist keinesfalls wünschenswert.

Als Kind mussten wir bei langen Autofahrten immer anhalten, um die Frontscheibe zu putzen, weil Unmengen von Fliegen und anderer Insekten an ihr klebten. Wie schlimm ist es, dass ich als Erwachsene heute problemlos mehrere tausend Kilometer durchfahren kann und die Scheibe sauber bleibt? Da liegen vielleicht mal 30 Jahre dazwischen.

Segerer: „Sehr schlimm, weil es den Rückgang der Biomasse an Insekten eindrucksvoll zeigt – nicht nur das Artensterben, sondern den Rückgang der Individuenzahl. Es zeigt uns allen qualitativ, was die Krefelder in ihrer viel besprochenen Studie quantitativ gemessen haben. Ihr Fazit war so klar wie erschreckend: Mehr als 75 Prozent der Insekten sind bereits weg.“

Stickstoffbelastung und Pestizide sind wesentliche Ursachen

Was sind weitere Symptome für das rapide Insektensterben?

Segerer: „Das Insektensterben ist eingebettet in einen generellen Rückgang der Arten seit Beginn der industriellen Revolution/Agrarrevolution, also der Intensivierung von Landnutzung, Zerstörung naturnaher Lebensräume sowie Flächenfraß. Man spricht bereits vom sechsten Massenaussterben der Arten.

Indikatoren bei den Insekten sind zum Beispiel: Das Bienensterben, das beständige Anwachsen der Rote Listen der gefährdeten Arten, der dramatische Rückgang der Schmetterlinge in Bayern und in Baden-Württemberg; auch Allerweltsarten sind teilweise bis zu 99 Prozent eingebrochen. Schmetterlinge sind anerkannte Bioindikatoren: Geht es ihnen schlecht, geht es den anderen Arten auch schlecht. Auch: das Vogelsterben, der berühmte stumme Frühling, der sich einstellt, wenn den Vögeln ihre Hauptnahrungsquelle wegbricht.“

Wer oder was ist dafür verantwortlich?

Segerer: „Alle gemeinsam. Verlust an natürlichen Lebensräumen durch Intensivierung der Landwirtschaft und Flächenfraß beim Bau von Siedlungs-, Industrie-, Verkehrsfläche. Biotopverinselung, also verbliebene artenreiche Restbiotope werden mehr und mehr zu kleinen Inseln, die weiträumig von einem weitgehend lebensfeindlichen Meer aus intensiv bewirtschafteten Agrarflächen/Grünland und Beton umgeben sind.

Schädigung der Restbiotope vor allem durch Überdüngung aus vielerlei Quellen, insbesondere die immense Stickstoffbelastung. Verursacher sind Gülle und Kunstdünger aus der intensiven Landwirtschaft (ca. 63%), Emissionen aus Verkehr und Industrie (37%). Vergiftung von Insekten und/oder ihren Futterpflanzen durch Insektizide (z.B. Neonicotinoide) und Herbizide, zum Beispiel das Totalherbizid Glyphosat. Um die Dimensionen zu verstehen: Heutige Neonicotinoide sind für Insekten teilweise 10.000mal giftiger als DDT, und dazu schwer abbaubar, d.h. sie reichern sich in der Umwelt an. Lichtverschmutzung und Verkehr vernichten außerdem eine Vielzahl an Individuen.“

Was müssen Wirtschaft und Politik dringend tun?

Eva Rosenkranz: „Grundsätzlich muss klar sein, dass das Artensterben wie der Klimaschutz ganz oben auf die Agenda von nationaler wie internationaler Politik gehört.“

Segerer und Rosenkranz haben in ihrem Buch eine Agenda für (Land-)Wirtschaft und Politik formuliert. Darin fordern sie:

Eine echte Agrarwende: Das System der EU-Agrarsubventionen (immerhin jährlich über 50 Milliarden Euro) muss neu gedacht und angelegt werden; Zahlungen sollten an Schutz und Erneuerung einer intakten Umwelt gebunden werden (wozu übrigens für den gerade verhandelten EU-Planungszeitraum Gelegenheit wäre).

Pestizidverbote sollten für alle privaten Gärten und öffentliche Flächen gelten; vor allem Neonicotinoide, Breitbandherbizide und Mittel mit vergleichbarer Wirkung sind komplett zu verbieten.

Eine drastische Reduzierung des Düngereinsatzes und eine Abkehr von der industriellen Tierhaltung inklusive einer Reduzierung des Fleischkonsums, um der ökologischen Langzeitbombe Stickstoff zu begegnen.

Grundsätzlicher Schutz der Ökosysteme im Zentrum aller Maßnahmen. Eine Wiedervernetzung von natürlichen Lebensräumen ist eine vordringliche Sofortmaßnahme. Eine breite Aufklärung über ökologische Zusammenhänge und die dramatischen Folgen unseres derzeitigen Handelns gehört auf alle Bildungsebenen.

Lässt sich das weltweite Insektensterben überhaupt noch stoppen?

Rosenkranz: „Aus unserer Sicht besteht Hoffnung trotz des beängstigenden Ausmaßes und Tempos der Verluste. Wenn alle und auf allen Ebenen der Gesellschaft daran arbeiten. Und zwar sofort, schnell und mutig. Durch konkrete Maßnahmen im eigenen Umfeld, durch Veränderungen im Alltagsverhalten, in unserer Wahrnehmung von Ordnung, durch Forderungen an Verwaltungen auf kommunaler und regionaler Ebene, wo vielfach überholte Vorstellungen von Natur- und Umweltschutz anzutreffen sind. Aber auch durch gezieltes Wähler- und Verbraucherverhalten. Hier hat sich seit Jahren bereits eine Bewegung entwickelt, die wir im Buch ausführlich vorstellen.

Im Einzelnen sollten sich Privatleute und Gemeinden vom Grundsatz der „Grünfläche“ verabschieden und wieder an die bis vor wenigen Jahrzehnten selbstverständliche Tradition der Wiese anknüpfen. Das für Insekten nutzlose „Grün“ an Straßen, in Gärten aufwerten. Versiegelung auf Wegen/Plätzen sind nach Möglichkeit zu vermeiden; dagegen Begrünung, wo immer möglich. Kein Einsatz von Pestiziden und Dünger in Gärten und auf öffentlichen Flächen. Beim Einkaufen auf Produkte ökologischer Bewirtschaftung und ethisch vertretbarer Tierhaltung achten. Wilde Bereiche zulassen. Das sind nur wenige Beispiele.“

Warum klingeln bei so vielen Menschen die Alarmglocken nicht?

Rosenkranz: „Wir müssen uns vor allem klar machen, dass wir Teil der Natur sind und wir daher nichts tun können, ohne uns selbst zu schaden - oder zu nutzen. Deshalb ist Naturschutz immer auch Selbstschutz für uns Menschen. Beim Insekten- und Artensterben müssen wir uns einen einfachen Satz vor Augen halten: Es geht um uns!“