Interview mit Niko Rittenau

Vegan-Klischee ade: Ernährungswissenschaftler klärt auf

30. Jan. 2021 von

Wer kein Fleisch isst, bekommt Mangelerscheinungen, tierisches Eisen ist besser als pflanzliches und kleine Sünden sind verboten? Nein, es kommt nur auf ein paar einfach Regeln an, um sich wirklich ausgewogen und gesund zu ernähren. Was zu beachten ist, erklärt der bekannte Ernährungswissenschaftler Niko Rittenau im Interview mit CodeCheck

Nehmen wir an wir reisen ins Jahr 2030. Wie genau würde die ideale Ernährung für Dich dort aussehen?

Mir liegen keine Zukunftsprognosen für 2030 vor, aber für 2040 veröffentlichte die internationale Unternehmensberatung A.T. Kearney eine Publikation, die besagt, dass zu diesem Zeitpunkt bis zu 60 Prozent der Fleischprodukte nicht mehr von Tieren stammen, sondern entweder pflanzen- oder zellbasiert sein werden. Wenn das tatsächlich so eintreten würde, hätte das einen enorm positiven Einfluss auf unsere Umwelt, das Pandemierisiko und natürlich auch auf die dutzenden Milliarden an Nutztieren. Der größte Hebel, den wir in den kommenden Jahrzehnten zum Wohle unserer Umwelt, des Klimas, des Tierschutzes und der Weltgesundheit betätigen können, ist es der steigenden Nachfrage an Fleisch, Milch(-produkten) und Eiern auf alternativen Wegen nachzukommen. Pflanzliche Alternativen sind dabei, ebenso wie zellbasierte Lösungen vielversprechend. Und je weiter es in eine pflanzliche Richtung geht, umso idealer wird es für die Umwelt und besonders auch die Tiere. Ich bin auf jeden Fall gespannt wie die kommenden zwei Jahrzehnte verlaufen werden.

Können wir uns denn rein pflanzlich ernähren ohne Mangelerscheinungen zu bekommen?

Grundsätzlich ja. Der menschliche Organismus benötigt nicht bestimmte Lebensmittel, sondern lediglich bestimmte überlebensnotwendige Nährstoffe wie Vitamine, Mineralstoffe sowie einige Fett- und Aminosäuren. Wenn wir diese in ausreichender Menge in guter Bioverfügbarkeit bereitstellen ist es sekundär ob diese nun aus Tieren, Pflanzen oder Pilzen stammen. Tierische Lebensmittel haben kein Monopol auf irgendeinen essenziellen Nährstoff. Das vorweggenommen muss allerdings eingeräumt werden, dass unser Lebensmittelproduktionssystem in Bezug auf die Nährstoffbedürfnisse vegan lebender Menschen deutlich hinterherhinkt und es daher noch nicht all die Lebensmittel für vegan lebende Menschen im Supermarkt und Discounter gibt, die für eine alltagstaugliche und rundum nährstoff-bedarfsdeckende vegane Ernährung notwendig wären. Um das zu überbrücken ist die Einnahme eines Nahrungsergänzungsmittels (mindestens Vitamin B12, aber gerne auch ein auf Veganer zugeschnittenes Multi-Nährstoffpräparat) eine wichtige Zwischenlösung. Langfristig wird das aber auch nicht mehr notwendig sein.

Supplementierst Du? Und wenn ja, worauf achtest Du dabei?

Ja, ich nehme wie vorhin angesprochen ein gut zusammengestelltes veganes Multi-Nährstoffpräparat mit dessen Hilfe man mit ein bis zwei Kapseln täglich sämtliche kritische Nährstoffe in ausreichender Menge und guter Bioverfügbarkeit bekommt. Natürlich lege ich primär einen Fokus darauf den Großteil meiner Nährstoffe aus vollwertigen pflanzlichen Lebensmitteln zu bekommen, aber durch den Multinährstoff bin ich etwas freier in meiner Lebensmittelauswahl und gerade wenn ich nach der Pandemie wieder vermehrt zwecks Vorträgen auf Reisen sein werde ist das ein gutes Sicherheitsnetz, um auch bei eingeschränkter Lebensmittelauswahl auf Reisen gut versorgt zu sein. Es gilt bei der Auswahl der Nahrungsergänzung darauf zu achten, dass sie die richtige Auswahl und Dosierung an Nährstoffen in gut bioverfügbaren Formen enthält, sodass man keinen Nährstoffmangel riskiert, aber ebenso auch nicht die Höchstzufuhrmengen (Tolerable Upper Intake Level) überschreitet.

Was sind gute pflanzliche B12- oder Eisenlieferanten?

In der Theorie können durch die Fermentation mit den richtigen Bakterienkulturen sehr große Mengen an bioverfügbarem Vitamin B12 in Lebensmittel wie Sauerkraut und Sojajoghurt gebracht werden. Das wird allerdings aktuell leider noch nicht gemacht. Daher sind die einzigen veganen Lebensmittel mit B12 angereicherte Lebensmittel wie Pflanzenmilch mit B12. Daher stammt auch die dringende Empfehlung dieses Vitamin zu supplementieren. Genügend Eisen findet sich in Hülsenfrüchten, Vollkorngetreide, Nüssen und Samen. Vor allem Linsen enthalten nicht nur viel Eisen, sondern weisen dieses auch in einer Form namens Ferritin-Eisen auf, das ebenso gut bioverfügbar ist wie Hämeisen aus Fleisch.

Welche Lebensmittel hast du immer vorrätig und warum?

Ich habe stets einen guten Vorrat an (Vollkorn-)getreiden (also Pasta, Reis, Mehle, intakte Getreide etc.), Hülsenfrüchten (Linsen, Erbsen, Bohnen etc.) sowie ein paar Packungen Kerne (Walnüsse, Mandeln, Kürbiskerne, Sonnenblumenkerne etc.) und Tiefkühlgemüse und -obst zu Hause. Ergänzt durch einen gut gefüllten Kühlschrank mit angereicherter Pflanzenmilch (aus Soja, Hafer, Mandeln etc.), pflanzlichen Proteinlieferanten (Tofu, Seitan, Tempeh etc.) sowie frischem Gemüse, Pilzen, Kräutern und Obst hat man alles Nötige zu Hause, um sich ausgewogen und nährstoffreich vegan zu ernähren.

Welche Lebensmittel - von denen man eventuell meinen würde, sie wären gesund - sucht man bei dir vergeblich?

Da ich mich vegan ernähren sucht man bei mir in erster Linie tierische Lebensmittel vergebens. Für viele Menschen gilt ja Fisch als unverzichtbar wegen seiner Omega-3-Fettsäuren, Milchprodukte wegen des Kalziums und rotes Fleisch fürs Eisen. Ich habe für all diese Nährstoffe aber vegane Lebensmittel, die das in ausreichender Menge abdecken.

Niko Rittenau
Niko Rittenau

In „Vegan Low Budget“ erklärt Niko Rittenau, wie man sich für 5 Euro pro Tag ausgewogen und gesund vegan ernähren kann.

Was hälst du von stark verarbeiteten veganen Trendprodukten wie Burger, Schnitzel oder Hack? Wenigesten ab und zu oder wirklich garnicht?

Das kommt auf das jeweilige Fertigprodukt an. Manche sind gut produziert, sauber in der Zutatenliste und wohlschmeckend und manch andere sind das genaue Gegenteil davon. Letztendlich kann aus rein gesundheitlicher Sicht aber jedes Lebensmittel im Rahmen einer insgesamt gesunden Ernährungsweise Teil des Speiseplans sein. Es kommt nicht auf das einzelne Lebensmittel, sondern die Summe der Lebensmittelauswahl an. Das reduktionistische Verteufeln einzelner Lebensmittel missachtet die komplexen Wechselwirkungen unserer Nahrungsmittel untereinander und lässt das große Ganze außer Acht. Von daher können derartige Lebensmittel durchaus auch Teil eines insgesamt gesunden Speiseplans sein.

Stichwort „Veganuary“: Hast Du Tipps, worauf Neu-Veganer unbedingt achten sollten?

Auf der Webseite von Veganuary Deutschland gibt es ja bereits jede Menge Einsteigertipps, Rezepte und vieles Weitere. Abseits davon ist es vor allem im Rahmen von Veganuary – wenn man also einen veganen Lebensstil für einen Monat testet – wichtig sich nicht verrückt zu machen, was die Nährstoffbedarfsdeckung angeht. In einem Monat entwickelt man selbst mit suboptimalen veganen Ernährungsweisen keinen gravierenden Mangel und man sollte diesen Monat nutzen, um sich mit der veganen Lebensweise vertraut zu machen und neue Gerichte auszuprobieren. Social Media und zahlreiche vegane Rezepteblogs bieten eine sehr große Vielfalt an spannenden Infos, Rezepten und vielem mehr. Wenn man sich dazu entschließt sich auf Dauer vegan zu ernähren, sollte man sich gerne an meinen „10 Tipps für eine gesunde vegane Ernährung“ orientieren, die ich sowohl in meinem „Vegan-Klischee ade!“-Kochbuch als auch in meiner 10-teiligen kostenlosen Videoreihe auf YouTube im Detail bespreche. Sie geben einen guten Überblick worauf man achten sollte, um sich alltagstauglich und einfach vegan zu ernähren und dabei den Nährstoffbedarf zu decken.