Gesundheit

Dank virtueller Realität zu geistiger Gesundheit?

16. Aug. 2017 von

Man nehme sieben Menschen aus Deutschland. Dann hat – statistisch gesehen – eine dieser Personen eine Angststörung. Nimmt man nur Frauen, reichen sogar lediglich fünf aus, um in der Runde mindestens eine mit einer Angststörung zu haben. Das zeigen Zahlen von Robert-Koch-Institut und Statistischem Bundesamt.

Jeder hat vor irgendetwas Angst – Spinnen, Höhe, enge Räume. Die meisten haben diese unter Kontrolle, genauso gibt es aber unzählige Fälle, in denen die Phobien das Leben bestimmen. Dann hilft meist nur, sich professionelle Hilfe zu suchen.

Das Problem: Inzwischen hat sich, besonders bei Angststörungen, die Erkenntnis durchgesetzt, dass man sich den Ängsten bestenfalls aktiv stellt, um sie zu überwinden. Aber man kann Patienten nicht einfach zwischen Wolkenkratzern balancieren lassen, in eine Wanne voller Spinnen schmeißen oder sie gar – wie im Fall an PTSB-erkrankter Soldaten und Flüchtlinge – zurück in Kriegsgebiete schicken, ohne weitere Traumata zu riskieren. Oder doch?

Inzwischen ist all das möglich – moderner Technik sei dank. Die Lösung verbirgt sich hinter zwei Buchstaben beziehungsweise Wörtern: VR, oder Virtuelle Realität. Dabei geht es schlicht darum, vollständig in eine computergenerierte Umwelt einzutauchen und sich darin zu bewegen. Sozusagen ein besseres 3D-Kino.

Diese Technik kommt ursprünglich aus der Computerspiel-Industrie, immer mehr Branchen nutzen sie aber: VR wird beispielsweise im Sport, Tourismus, Militär, Einzelhandel, Film und Fernsehen oder der Bildung eingesetzt – und eben in der Medizin. Forschung mit verschiedenen Formen von VR existiert seit 25 Jahren und hat seitdem einiges an Ergebnissen produziert.

Einer der Vorreiter auf dem Gebiet ist Daniel Freeman, Psychologe an der britischen Oxford-Universität. Er und einige Kollegen haben in einer Metaauswertung letztes Jahr insgesamt 285 Studien betrachtet und daraufhin untersucht, bei welchen psychischen Erkrankungen und Problemen VR eine sinnevolle Therapiemethode sein kann. Diese Liste fasst die Ergebnisse zusammen – ergänzt um andere, weitestgehend psychische Probleme, bei deren Behandlung VR in den kommenden Jahren eine tragende Rolle spielen könnte.

Angststörungen

Hierunter zählen allgemeine Angststörungen, aber auch Phobien oder Posttraumatische Belastungsstörung (PTSB). Die Forscher haben hier nicht nur die größte Zahl an Studien gefunden, sondern ebenso die größten Erfolge von VR in der Therapie ausgemacht. Das liegt zum Großteil daran, dass man die Patienten in einer kontrollierten Umgebung ihren Ängsten direkt aussetzen kann, ohne sie zu gefährden. Obwohl sich alles im virtuellen Raum abspielt, reagieren Körper und Geist, als ob es sich um eine reale Situation handelt. Wird der Stress zu viel, nimmt man beispielsweise einfach die VR-Brille ab.

Aus diesem Grund finden sich inzwischen zahlreiche Anwendungen, die sich gezielt an Menschen mit Höhen- oder Spinnenangst wenden. Das Beste daran: Diese lassen sich problemlos auch privat zuhause einsetzen – wenn man eine VR-Brille besitzt. Ein anderer Schwerpunkt liegt auf der Behandlung von PTSB, insbesondere bei Veteranen. Auch hierfür gibt es dedizierte Anwendungen, beispielsweise von der University of Southern California.

Psychosen

Freeman und sein Forscherteam selbst haben eine Handvoll Untersuchungen mit Schizophrenie-Patienten und VR durchgeführt, konnten darüber hinaus aber noch weitere Untersuchungen in diesem Bereich identifizieren, die sich beispielsweise eher auf Paranoia fokussierten. Hier drehte sich die Forschung bisher allerdings weniger um die Therapie als vielmehr das grundständige Verstehen der Erkrankungen.

Allerdings, so die Metastudie, sind einige Ergebnisse durchaus vielversprechend: Beispielsweise konnten die Wissenschaftler das Selbstbewusstsein von Probanden erhöhen, indem sie deren Körpergröße in der virtuellen Realität erhöht haben – etwas, das im echten Leben gar nicht möglich wäre.

Drogenmissbrauch

Was den Entzug von Drogen, Alkohol oder Zigaretten anbelangt, eignet sich VR laut aussagekräftigen Studien bislang lediglich dazu, das Verlangen nach den Substanzen zu wecken und zu verstärken. Diesen Effekt könnten sich Psychologen in einer Behandlung aber durchaus zunutze machen, indem Patienten lernen, das erzeugte Verlangen zu bekämpfen und damit umzugehen. Vereinzelt gibt es auch Studien, die anscheinend einen erfolgreichen therapeutischen Ansatz demonstrieren, indem beispielsweise virtuelle Zigaretten zerstört werden.

Essstörungen

Ähnlich wie bei dem Körpergrößen-Experiment, um das Selbstbewusstsein der Probanden zu stärken, scheinen sich entsprechende Mechaniken zu eignen, um Essstörungen zu behandeln. Auch wenn es hierzu nur wenige verlässliche Untersuchungen gibt, konnten einzelne einen positiven Effekt zeigen – beispielsweise wenn man Patienten mit Anorexia nervosa in einen virtuellen Körper mit gesundem BMI schlüpfen lässt.

Schmerzbehandlung

Das Harborview Burn Center an der University of Washington hat ein spezielles VR-Programm für Brandopfer entwickelt. Dabei geht es vor allem um die Schmerzbehandlung während der Wundpflege. Dort zeigten sonst erfolgreich eingesetzte Opioide kaum Wirkung – ganz im Gegensatz zum SnowWorld-Programm, das die Brandopfer während der Wundversorgung in eine Schneelandschaft versetzt.

Ebenso gibt es immer mehr Mediziner, vor allem Zahnärzte, die ihren Patienten während einer Behandlung eine VR-Brille aufsetzen und so mitunter vollständig auf eine Anästhesie verzichten können. Der Effekt ist dabei ähnlich dem einer Hypnotherapie – die im Übrigen schon seit 2006 eine wissenschaftlich anerkannte Behandlungsmethode in der Psychotherapie ist.

Demenz (und geistige Gesundheit im Alter)

Wer schon einmal in einem Altenheim zu Besuch war, kennt die Szenerie: ein Dutzend Menschen, manche im Rollstuhl, starrt auf einen Fernseher, mitunter stundenlang. Natürlich gibt es ebenso andere, fordernde Beschäftigungen. Ebenso steht aber fest, dass wir in den nächsten Jahrzehnten immer größere Probleme mit Demenz und Alzheimer bekommen werden. Noch gibt es dafür keine Heilung, aber eine Reihe von Behandlungsmöglichkeiten – zu denen zunehmend auch VR zählt.

Zwei Projekte aus Australien zeigen beispielsweise, wie VR nicht nur (positive) Erinnerungen bei Demenzpatienten triggern können – sondern auch, wie die Technik Nicht-Betroffenen hilft, die Krankheit besser zu verstehen. Bei anderen Projekten geht es darum, Menschen auf Palliativ-Stationen das Lebensende angenehmer zu machen, oder schlicht Einsamkeit und dem Rückgang geistiger Fähigkeiten im Alter vorzubeugen. Senioren können dank VR beispielsweise Orte besuchen, die sie sonst nie wieder zu Gesicht bekommen würden oder sich mit stetig neuen Eindrücken geistig fit halten.

Dieser Artikel von Vincent Halang erschien zuerst beim „enorm Magazin“.