Internationalisierung externer Kosten

Wenn Ökosysteme Rechnungen stellen

02. Sept. 2018 von

Dass der Verursacher eines Schadens auch für dessen Beseitigung aufkommt, gilt schon im Kindergarten. Dieses Prinzip ist Grundlage vieler Gesetze. Doch im Umweltrecht gibt es einige Lücken. Dadurch entstehen hinter den Kulissen zahlreiche Schäden für Ökosysteme und die Allgemeinheit – doch diese spiegeln sich nicht in den Kosten für Herstellung oder Konsum wider. Brauchen wir ein zweites Preisschild?

Der Skandal sorgte für einen Aufschrei: Amazon vernichtet massenhaft Retouren, selbst neuwertiger Produkte. Diese verschwenderische Praxis hängt damit zusammen, dass es sich für den Onlinehändler und seine Zulieferer wirtschaftlich nicht lohnt, Rücksendungen durch Mitarbeiter sortieren und aufbereiten zu lassen – dies wäre nämlich teurer als die Herstellung der Produkte selbst.

Kosten hinter den Kulissen

Doch stimmt diese Rechnung? Unter den aktuellen ökonomischen Bedingungen: ja. Doch dabei wird eine ganze Palette versteckter Kosten unterschlagen: die sogenannten negativen Externalitäten, auch negative externe Effekte genannt. Damit sind nachteilige Auswirkungen bei Herstellung oder Verbrauch gemeint, die der Verursacher jedoch nicht kompensiert, beziehungsweise derjenige der einen Vorteil erhält, nicht für alle anfallenden Kosten aufkommt. Man spricht daher von externen Kosten, die sich nicht im Produktionspreis niederschlagen.

Häufig betreffen diese Kosten Umwelt oder Gesellschaft. Je nach Produkt oder Prozess ist die Liste dieser Effekte lang bis schier endlos. Sie kann von Artensterben über Lärm bis zur Zerstörung von Korallenriffen reichen. Am Beispiel eines T-Shirts äußern sie sich in hohem Wasserverbrauch, Emissionen von Treibhausgasen und Chemikalieneinsatz – besonders verursacht bei Anbau und Produktion. Hand in Hand gehen auch soziale Faktoren: Arbeiter auf Plantagen und in Textilfabriken weltweit sind häufig hohen Schadstoffbelastungen ausgesetzt; bei außerdem vergleichsweise geringer Entlohnung.

Für die involvierten Unternehmen entstehen durch die beschriebenen Auswirkungen jedoch keine bis wenig Kosten. Vor allem, weil Ökosysteme negative Nebeneffekte wie Wasser- oder Luftverschmutzung nicht in Rechnung stellen. Zumindest nicht direkt, und nicht monetär. Kosten für Auswirkungen wie den Klimawandel trägt stattdessen die Gesellschaft als Ganzes.

„Externe Effekte sind Folge von Marktversagen“

„Externe Effekte sind Folge von Marktversagen“, erklärt Christian Berg, Honorarprofessor für Nachhaltigkeit und Globaler Wandel an der TU Clausthal, der sich im Rahmen seiner Forschung sowie als Politikberater der Frage widmet, wie eine Gesellschaft als Ganzes nachhaltiger werden kann. In diesem Zuge beschäftigt er sich auch mit negativen Externalitäten. Denn wird die öko-soziale Wahrheit hinter Produkten nicht abgebildet, führt das zu Ressourcenverschwendung, wie der Amazon-Fall beispielhaft zeigt. Außerdem verzerren externe Effekte die Preisbildung und damit den Wettbewerb: nicht nachhaltige Produkte können quasi zu Unrecht günstig angeboten werden.

„Dabei gibt es ein grundlegendes juristisches und moralisches Prinzip, das wir sogar schon Kindern im Kindergarten beibringen“, sagt Berg: „Wenn jemand etwas unordentlich gemacht hat, muss er es auch zurechtrücken.“ In anderen gesellschaftlichen Bereichen sei dieses Verursacherprinzip auch schon in Recht und Gesetz gegossen, wie beispielsweise bei der Haftung für verursachte Schäden. „Doch im Bereich der Umwelt besteht dringender Nachholbedarf.“

Wie viel kostet eine Tonne Treibhausgase?

Doch um negative Effekte internalisieren, also einpreisen zu können, müssen sie zunächst in Geld umgerechnet werden: Doch wie viel kostet beispielsweise eine Tonne Treibhausgas-Emissionen durch ein Kraftwerk? Oder ein Quadratkilometer zerstörtes Korallenriff?Das ist zum einen ein ethisches Problem – darf der Mensch Natur einen monetären Wert beimessen? Außerdem braucht man Übereinkünfte, was je nach Produkt als externer Effekt zählt. Und für welchen Zeitraum man entstehende Kosten veranschlagt – für 10, 100 oder im Falle von nuklearer Endlagerung besser für mehrere Millionen Jahre? Durch die weltweit verflochtenen Wirtschaftssysteme und häufig importierte sozial-ökologische Fußabdrücke, wäre zudem eine internationale Übereinkunft ideal.

„Doch bereits auf nationaler Ebene könnte man wichtige Impulse setzen“, schätzt Berg das Potenzial ein. Auch andere Experten aus Wirtschaft, Politik und Nachhaltigkeit diskutieren schon seit Längerem diese Notwendigkeit. Dennoch ist bisher nicht viel in diese Richtung passiert. Laut Berg fehlt das Bewusstsein für die Dringlichkeit.

Dabei gibt es rein mathematisch bereits Methoden einer Annäherung, die zumindest stellenweise bereits zum Einsatz kommen. Man kann zum Beispiel kalkulieren, wie viel die Pflanzung von Bäumen zur Kompensation der einen Tonne Treibhausgase kosten würde – sozusagen die Wiedergutmachungs-Kosten. Oder wie viel Geld ein Ort mit sanftem Tourismus durch ein intaktes Korallenriff hätte verdienen können – die möglichen Nutzungskosten.

Brauchen wir ein zweites Preisschild?

„Trotzdem scheint es gesamtgesellschaftlich noch nicht genug Leuten klar zu sein – auch nicht auf Ebene der Politik –, dass es diese Kosten wirklich gibt. Und, dass sie ein Problem darstellen“, sagt Berg. Das zeige auch das Beispiel Energie: Das Bundesumweltministerium rechnete schon 2013 aus, dass eine Kilowattstunde Braunkohle-Strom zusätzlich zu den bestehenden Kosten noch einmal rund 11 Cent an Umweltkosten verursacht.

Das ist rund ein Drittel des aktuellen Durchschnittspreises einer Kilowattstunde Strom zusätzlich, die momentan rund 30 Cent kostet. „Diese Mehrkosten tragen aber bislang weder Betreiber noch Kunden, sondern die Allgemeinheit.“ Zum Vergleich: Auch die Energiegewinnung aus Erneuerbaren verursacht externe Effekte, doch deutlich weniger. Im Falle von Wind- oder Wasserkraft sogar unter 1 Cent. Als eine Maßnahme zur Bewusstseinsbildung schlug das Umweltbundesamtes 2016 die Einführung eines Labels vor.

Das sogenannte „zweite Preisschild“ soll externe Umweltschäden für Konsumenten sichtbar machen. Allerdings wäre dies zugleich eine Label mehr unter Hunderten: „Grundsätzlich finde ich zwar alles gut, was die Transparenz für Verbraucher erhöht“, sagt Berg, „doch man kann nicht vom Konsumenten erwarten, jede Kaufentscheidung alleine abzuwägen: Es bleibt Aufgabe der Politik auch im Nachhaltigkeits-Kontext ein vertretbares Niveau zu garantieren. Beispielsweise so, wie das bei technischen Standards durch die sogenannte Geprüfte Sicherheit oder den TÜV beim Auto schon längst passiert.“ Dafür geeignete politische Instrumente könnten Steuern sein, die auf externe Kosten erhoben würden.

Würde ein Gerechtigkeitsproblem weiter wachsen?

Solche Abgaben würden jedoch zugleich die Preise vieler Produkte erhöhen, was auch die Konsumenten zu spüren bekämen. Menschen mit geringeren Einkommen träfen solche Preissteigerungen für Lebenshaltungskosten und Konsumgüter dann besonders stark. „Man darf von einem einzelnen Instrument der Umweltpolitik nicht erwarten, dass es davon unabhängige soziale Probleme wie ungerecht verteiltes Einkommen direkt mit behebt“, sagt Berg. „Für solche Herausforderungen wären ein bedingungsloses Grundeinkommen oder Steuererleichterungen für geringere Einkommen geeignete Maßnahmen.“

Auch müsste eine erfolgreich umgesetzte Internalisierung gar keine Preissteigerung allgemein bedeuten. Die Preise für nicht nachhaltige Produkte würden zwar steigen. Doch sozial-ökologische Lösungen würden vom neuen System befördert. Denn je nachhaltiger ein Produkt oder eine Dienstleistung, desto weniger negative externe Kosten entstehen entlang der Wertschöpfungskette. Eine österreichische Studie hat beispielsweise ermittelt, dass ökologische Landwirtschaft mindestens ein Drittel weniger externe Kosten verursacht als die konventionelle.Daher kämen auf nachhaltige Produkte oder Dienste weniger steuerliche Belastungen zu.

Steuer-Anreiz für nachhaltige Lösungen

Diesen Prozess könnte die Politik durch eine Anpassung des Steuersystems noch begünstigen, die auch den Unternehmen nicht schadet: „Besonders wenn die Politik die Wirtschaft unter dem Gesichtspunkt der globalen Wettbewerbsfähigkeit nicht übermäßig strapazieren will, wäre es sinnvoll, zwar ökologisch nachteilige Dinge stärker, doch ökologisch vorteilhafte Konzepte weniger zu besteuern“, ist Berg überzeugt.

„Um die Akzeptanz solcher Steuern zu erhöhen, wäre wichtig, dass die Bürger dies nicht als staatliches ‚Abkassieren‘ verstehen. Man sollte zeigen, dass die Steuer unmittelbare Vorteile hat – so wie etwa die Ökosteuer die Lohnnebenkosten senkt und damit Arbeitsplätze schafft.“ Einnahmen sollten beispielsweise über günstigere Mehrwertsteuersätze für nachhaltige Produkte oder Dienstleistungen an die Bürger zurückfließen oder Investitionen in Klimaschutzprojekten dienen.

Ein solches System wäre zugleich Anreiz für Unternehmen, möglichst nachhaltige Lösungen zu entwickeln und damit sogar positive externe Effekte zu fördern. „Bisher werden Unternehmen in der öffentlichen Wahrnehmung oder auch von Investoren noch danach bewertet, wie viel wirtschaftlichen Profit sie erwirtschaften und wie viele Jobs sie bieten. Doch spätestens in Zeiten einer Industrie 4.0 verändert sich der Arbeitsmarkt ohnehin“, sagt Berg. Stattdessen sei es sinnvoll, Unternehmen im Sinne einer dreifache Beurteilung nach den Kriterien ökonomisch, ökologisch und sozial zu bewerten. Besonders unter den passenden Rahmenbedingungen wären dann nachhaltige Unternehmen zugleich die erfolgreicheren.

Dieser Artikel von Lea Jahneke erschien zuerst im „enorm Magazin“.