Doku-Tipp

Raus aus der Konsumzone – pragmatische Ansätze

09. Juni 2018 von

Konsumfrei leben – aber wie? Eine Arte-Dokumentation zeigt pragmatische Ansätze aus Frankreich und Österreich – und macht Mut.

„Das sind doch verrückte Öko-Hippies oder naive Weltverbesserer“ – So oder ähnlich lauten oftmals Vorurteile gegenüber Menschen, die alternative Lebensmodelle fernab eines Konsum-Hypes verfolgen. In einer Leistungs- und Konsumgesellschaft werden kritische Fragen wie „Kann ich ohne Konsum oder Geld leben?“ meist belächelt und als Spinnereien abgetan.

Dabei gibt es bereits ausgetüftelte und realisierte Utopien um den ganzen Globus, bei denen es sich lohnt, einen zweiten Blick darauf zu werfen. Hier setzt die Arte-Dokumentation „Re: Leben ohne Konsum – Die Vision von der Selbstversorgung“ an. Ohne zu romantisieren und mit kritischem Auge werden zwei Lebens- und Bildungskonzepte in Frankreich und Österreich vorgestellt: Benjamin Lesages Ökodorf „Eotopia“ in der Nähe Lyons und Lisa Pflegers „Experiment Selbstversorgung“ im Südburgenland.

Von Montag bis Freitag zeigen die „Re“-Reihen von Arte in 30 Minuten bewegende Reportagen von Menschen aus Europa und stellen deren vielfältige Lebenswelten in den Vordergrund.

Zwischen Realität und Utopie

In Frankreich entsteht beispielsweise auf einem drei Hektar großen Gelände mitten in der Natur seit 2016 ein ökonomisches und ökologisches Experimentierfeld, dass über verschiedene Ansätze wie Permakultur, Energieeffizienz, vegane Lebensweise und eine sogenannte „Gift Economy“ Gemeinschaft neu denken möchte: Geben ohne zu nehmen – einfach schenken.

Auch die junge Umweltpädagogin Lisa Pfleger hat sich mit ihrem Grundstück im Südburgenland einen Traum erfüllt, möglichst unabhängig vom Staat sich selbst zu ernähren und wieder den direkten Bezug zur Natur herzustellen. Experimentieren, Erfahrungen sammeln und diese teilen, das macht die Österreicherin mittlerweile ziemlich erfolgreich, auf ihrem Mitmach-Hof, Blog oder ihre zahlreichen Bücher.

Kein Missionieren, sondern Mitmachen und sich bilden

Weder die Dokumentation, noch dem Franzosen oder der Österreicherin geht es ums Missionieren oder mit erhobenem Zeigefinger durch die Welt zu gehen – und das macht den Film so besonders. Pragmatische Idealisten möchte die Reportage vorstellen, die ihre Visionen mit dem was ist, abgleichen und dann versuchen, einen Weg zwischen Realität und Utopie zu finden.

Ein einzelner Mensch kann den Turbokapitalismus sicher nicht verändern, aber andere Menschen einladen, neue Konzepte kennenzulernen und sich über Umwelt- und Wirtschaftsalternativen zu bilden, das schon. So geben sowohl Lesange als auch Pfleger Interessierten die Möglichkeit mitzumachen oder einfach nur vorbeizukommen – ganz ohne Zwang. So lädt Lesage und seine Familie beispielsweise vom 28. Juni bis 02. Juli 2018 alle Interessierte und Neugierige zum Eotopia-Festival ein.

Wieso schon wieder eine Aussteiger-Doku?

Aber trotzdem, wieso schon wieder eine Doku über aussteigende ökologischer Weltverbesserer? Sicherlich, es gibt Dutzende davon. Aber ein niedrigschwelliges Angebot, dass die Zuschauenden dort abholt, wo sie sind, nicht missioniert und gleichzeitig auch kritische Fragen, wie die Finanzierung solcher Vorhaben, nicht aus dem Blickwinkel verliert, davon gibt es dann schon weniger.

Es ist nicht alles rosarot in der Reportage, sondern es werden auch die Grenzen, an die der Franzose und die Österreicherin stoßen, aufgezeigt und welche Kompromisse nötig sind. Scheitern ist menschlich und kann eine Gesellschaft ebenso ökologisch wie wirtschaftlich voranbringen.

Auch die Zahlen zeigen, dass das Interesse an konsumkritischen Themen in der Gesellschaft nicht abebbt: Auf Facebook hat Lisa mittlerweile über 75.000 Abonnenten und auch deutschlandweite Studien verdeutlichen, dass es immer mehr Menschen gibt, die sich kritisch Gedanken machen, wie sie leben möchten.

Laut einer von 2013 bis 2017 durchgeführten Marktanalyse des Allensbacher Instituts wollten 2017 beispielsweise über 39 Millionen Menschen hierzulande wirtschaftlich möglichst unabhängig vom Staat leben. Sicherlich, das sind erst einmal nur Zahlen, dennoch zeigen sie, dass sich Menschen zunehmend auch mit konsumkritischen Bedürfnissen auseinandersetzten.

Mehr als kleine Inselprojekte

Die Dokumentation lässt eben das Publikum nicht mit romantisierenden grünen Inselprojekten zurück, sondern mit neuen Denkanstößen und inspirierenden Visionären: Statt was brauch ich alles, fragt Lisa Pfleger, was brauch ich alles nicht. Und Benjamin Lesage versucht die konservativen Mauern eines kleinen französischen Dorfes einzubrechen und lädt zum veganen Picknick ein, zu konstruktivem Dialog und Zwischenmenschlichkeit.

Ein Satz, den der junge Franzose am Ende des Films von sich gibt, bleibt im Gedächtnis und regt zum Nachdenken an: „Wir wollen uns wirklich in die Gesellschaft integrieren und deshalb können wir nicht losgelöst in unserer kleinen Blase ohne Geld leben. Das wäre wirklich eine Utopie. Alles hat mehr Sinn, wenn wir uns dazwischen bewegen. Das wiegt alle Ausnahmen und Kompromisse auf, die ich auf diesem Weg gemacht habe.“

Und eines wird definitiv schwieriger nach der Arte Doku: Die kritischen Denkanstöße von Lesage und Pfleger mit einer Handbewegung wegzuwischen und als naiven Idealismus abzutun. Aufgrund drängender globaler Probleme wie die Verteilung von Arm und Reich und klimatische Veränderungen, bleibt die Frage: Welche Wahl treffen Sie nach dem Film?

Die „Re“-Reportagen sind in der Arte-Mediathek zu finden. Re: Leben ohne Konsum ist derzeit auf der Homepage nicht erreichbar. Es gibt allerdings einen Mitschnitt auf Youtube.

Dieser Artikel stammt vom „enorm Magazin“.